Etwas zu verallgemeinern, mag auf den ersten Blick, den Sachverhalt vereinfachen, auf den zweiten Blick wird eine Verallgemeinerung der Komplexität des Menschen jedoch nicht gerecht. In meiner Praxis spielt Differenzialdiagnostik eine große Rolle. Denn kein Mensch ist wie ein anderer. Keiner ist also mit einem anderen zu vergleichen. Würde ich jedoch der Vereinfachung halber, alles Verallgemeinern, so würde ich das tun und täte dir vermutlich Unrecht.
Was mich an Verallgemeinerungen stört
Viele Autoren schreiben es, viele Leser lesen es. „Der Einfachheit halber verwende ich nur die männliche Form“. Da der Mensch jedoch durch Wiederholung lernt, vergisst er, dass die männliche Form nur eine Vereinfachung sein sollte.
Mich persönlich stört das. Denn eine Verallgemeinerung der Dinge lässt häufig dann keinen Spielraum mehr für eine andere Möglichkeit. Verallgemeinerungen verhindern das aufrichtige Interesse am Gegenüber. Für mich persönlich ist nämlich gar nichts naheliegend, überhaupt nichts selbstverständlich und überhaupt mag ich es nicht mit anderen verglichen zu werden. Oder magst du es, stets und ständig mit anderen verglichen zu werden?
„Verallgemeinerungen helfen dem Laien dabei es zu verstehen“ (Lisbeth Schröder, FAZ)
Kürzlich gab ich der FAZ (Frankfurter Allgemeinen Zeitung) ein Interview zum Thema ADHS. Dabei ging ich auf die Beschreibung der aktuellen ICD-11 ein und verwendete diese. „ADHS ist lt. ICD-11 eine neurobiologische Entwicklungsstörung, die das erste Mal zwischen dem 5. und 12. Lebensjahr auftritt.“
Die Journalistin der FAZ wollte daraus machen: „ADHS ist eine psychatrische Störung, an der Kinder und Jugendliche erkranken“. Sie sagte, es diene der Vereinfachung, damit der Laie verstünde, was gemeint ist.
Glücklicherweise konnte ich mich mit meinem Satz durchsetzen, denn es handelte sich hierbei um ein persönliches Zitat.
Verallgemeinerungen verhindern das Nachdenken
Ständige Verallgemeinerungen sind tatsächlich eine Gefahr. Dass an vielerlei Stelle vereinfacht bzw. verallgemeinert wird, ist zwar durchaus verständlich, vor allem weil es auch menschlich ist, jedoch ist eine Verallgemeinerung auch gleichfalls eine kognitive Verzerrung. Verallgemeinerungen gefährden also das Nachdenken und führen häufig zu Wahrnehmungsfehlern.
Zudem führen sie dazu, dass dem Laien die Chance verwehrt wird etwas Neues zu lernen. Dem Laien wird damit Einheitsbrei serviert. Dem Laien wird nicht zugetraut, differenziert nachzudenken.
Ich beobachte dies insbesondere in der Psychologie und im Traumatherapeutischen Kontext und dann auch in den (sozialen) Medien. Psychoedukation, welche nunmal ein wichtiger Bestandteil einer jeden erfolgreichen Psychotherapie ist, wird umgangen, in dem der Einfahheit halber, vieles verallgemeinert wird.
Dies wird dann als „Aufklärung“ bezeichnet. Das Internet ist voller solcher „Aufklärer“, die sich teilweise aufführen wie die Königin im Schach. Diese scheint nämlich alles zu dürfen. Sie richtet. Sie urteilt. Sie steht über allem. Eine Königin darf scheinbar alles. Und ein Aufklärer, der verallgemeinert tut dies auch. Er/Sie urteilt und stellt sich gleichzeitig über den anderen.
Gegensätze ziehen sich an – oder sind es doch Verallgemeinerungen?
Ich persönlich glaube, dass wir uns alle das damit zu einfach machen. Und langfristig ist es dann nicht mehr so einfach zu unterscheiden. Langfristig erschweren wir uns dadurch auch den Aufbau von guten Beziehungen. Wenn nämlich plötzlich alle hochsensibel, narzisstisch oder psychopathisch sind, dann finden wir auf Dauer niemanden mehr, bei dem wir uns öffnen können und geborgen fühlen. Dann wären wir alle in meien Augen verlorene Seelen auf der Suche nach Sicherheit im Außen.
Gleichzeitig sind es doch die Gegensätze die uns magisch anziehen, und dazu lernen lassen, während die allgemeingültige Verallgemeinerungshaltung uns doch so ziemlich abstumpfen lässt. Mich zumindest lässt das abstumpfen, wenn ich mir nicht mehr die Mühe mache, einem Menschen zuzuhören und ihn somit ohne Vorurteil kennen zu lernen.
Warum Differenzialdiagnostik so wichtig ist
In meiner Praxis spielt Differenzialdiagnostik eine große Rolle, insbesondere bei der ADHS Diagnostik. Kein Krankheitsbild ist gleich. Kein Charakter hat dieselbe Denkweise oder dasselbe Problem. Verallgemeinerte Ansichten sind in der Psychotherapie nicht hilfreich. Denn dadurch entstehe mitunter auch Glaubenssätze. Glaubenssätze, wegen denen viele Betroffene in meine Praxis kommen. Die Möglichkeit zu differenzieren hilft mir dabei, mein Gegenüber zu verstehen und Glaubenssätze aufzulösen.
Würde ich verallgemeinern ist jemand auf einmal „hochsensibel“, weil er empfindlich auf etwas reagiert. Würde ich es mir einfach machen, dann ist jeder „narzisstisch“, wenn er sich einmal größer macht, als er ist, oder eine Geschichte erzählt, in welcher stets die anderen „Schuld“ sind. Würde ich nicht differenzieren in der Diagnostik, wäre jeder der sich nicht gut konzentrieren kann, oder Flüchtigkeitsfehler macht, automatisch ein ADHS´ler.
Differenzialdiagnostik verhindert Verallgemeinerungen und fördert die Empathie
Differenzialdiagnostik hilft mir also zu differenzieren. Symptome zu differenzieren macht mir als Therapeuten auf Dauer das Leben einfacher. Denn nur wenn ich genau weiß, was meinem Gegenüber fehlt, kann ich einen Behandlungsplan erstellen, der meinem Klienten hilft, sein Problem zu lösen. Der Klient fühlt sich verstanden und empathisch aufgefangen.
Früher haben mich Diagnosen immer gestört. Denn jemanden zu labeln, jemanden zu kategorisieren, war in meinen Augen auch wieder nur eine Pauschalisierung. Jedoch denke ich heute ganz anders darüber. Vor allem seit ich im Besitz der Heilerlaubnis bin.
Deswegen wirst du es niemals erleben, dass ich dich mit anderen Menschen auf eine Stufe stelle oder vergleiche oder sofort eine Diagnose stelle. Denn das ist in meinen Augen verantwortungslos. Zumal ich in erster Linie differenziere, um etwas auszuschließen.