Die Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter gemäß der neuen ICD-11 ersetzt fortan alle bisherigen Autismus Diagnosen aus der ICD-10. Bisher bekannt waren vorrangig der frühkindliche Autissmus, bekannt auch als Kanner-Autismus und der etwas mildere Verlauf vom hochfunktionalen Asperger Autismus, welcher eher durch eine früh entwickelte Sprache und Inselbegabungen auffällt und weniger durch Sprachstörung oder Minderbegabung. 

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Diagnostische Herausforderungen im Erwachsenenalter

Die Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) erfolgt in der Mehrzahl der Fälle im Kindes- oder Jugendalter. Für viele Erwachsene, insbesondere für Personen, die vor 1990 geboren wurden – also bevor die ICD-10 (seit 1994 in Kraft) das Asperger-Syndrom und andere hochfunktionale Varianten definierte – besteht eine deutliche diagnostische Lücke. Hochfunktionale Autismusformen wie das Asperger-Syndrom wurden häufig nicht erkannt, weshalb für diese Personengruppe im höheren Erwachsenenalter eine nachträgliche Autismusdiagnostik notwendig ist.

Im Kindesalter, dem Fokus der frühen Kanner-/Asperger-Forschung, sind die charakteristischen Beeinträchtigungen – gegenseitige Interaktion, (sprachliche) Kommunikation, repetitiv-stereotype Verhaltensweisen – klar als autistisches Syndrom erkennbar. Im Erwachsenenalter hingegen verschwimmt das klassische Bild des Autismus. Die beobachtbaren Symptome verändern sich im Entwicklungsverlauf, und Kompensationsleistungen der Betroffenen führen dazu, dass viele Symptome nicht unmittelbar zu erkennen sind.

Die gesellschaftliche und behördliche Akzeptanz der Diagnose ist besonders schwierig, wenn ASS erst im Erwachsenenalter aufgrund von Anpassungsschwierigkeiten an neue Lebensabschnitte (z.B. nach der Schule oder im Beruf) auffällt. In diesen Fällen wurde in der Kindheit oder Jugend keine Diagnose gestellt, da kein Anlass dazu bestand.

Teilweise werden entsprechend nur Persönlichkeitsanteile festgestellt, wie z.B. der schizoide, der selbstunsicher-vermeidende, der zwanghafte und manchmal leider auch der narzisstische Persönlichkeitsstil. Dass sich dahinter in Wahrheit eine Autismus-Spektrum-Störung verbirgt, lässt sich nur erahnen, wenn entsprechende Fachkenntnisse bestehen. 

ASS im klinischen Kontext bei Erwachsenen

Erwachsene mit ASS suchen psychiatrische oder psychologische Praxen selten wegen der Autismus-Spektrum-Störung selbst auf, sondern meist aufgrund anderer Probleme und Symptome. Die klinischen Bilder sind im Erwachsenenalter vielfältig und diffus und werden häufig als Persönlichkeitsstörungen, affektive Störungen, Zwangsstörungen oder psychosenahen Erkrankungen fehlgedeutet. Eine korrekte Zuordnung zur Autismus-Spektrum-Störung ist dadurch erschwert. Das fachliche Umdenken fällt schwer, da der Blick auf die klassischen, kindlichen Kernsymptome gerichtet bleibt.

Insbesondere sollte an ein Asperger-Syndrom gedacht werden, wenn Erwachsene mit atypischen Präsentationen von affektiven Störungen, psychosenahen Symptomen, Zwangssyndromen, Essstörungen oder Anpassungsstörungen vorstellig werden.

Bei Erwachsenen mit ASS treten häufig komorbide psychiatrische Störungen auf. Studien zeigen, dass affektive Störungen und Angststörungen (ca. 25–30 %) besonders häufig sind. Auch bipolare Störungen, Schizophrenien, ADHS und Zwangsstörungen treten überdurchschnittlich auf. Es gibt Hinweise auf eine gemeinsame genetische Vulnerabilität. Zudem klagen viele Betroffene über somatische Beschwerden. Auch sollte bei Lernstörungen wie Legasthenie oder Dyskalkulie unbedingt weiter gedacht werden. 

Diagnostische Möglichkeiten und Grenzen

Die diagnostischen Verfahren für ASS im Erwachsenenalter sind begrenzt, da sie auf Kinder, Jugendliche und männliche Betroffene ausgerichtet wurden. Daher müssen ergänzende Verfahren eingesetzt werden, insbesondere eine fachkundige Analyse der bisher unbeachteten autistischen Biografie.

Autismus-Spektrum-Störung: Mögliche diagnostische Verfahren im Überblick

Autismus Spektrum Quotient – Kurzversion (AQ-K):

Der AQ-K ist die deutsche gekürzte Version des AQ´s und dient als Selbstbeurteilungsinstrument, dass zum Screening bei mindestens durchschnittlich begabten Personen ab dem Alter von 16 Jahren mit einem Verdacht auf eine autistische Störung eingesetzt werden kann. Der AQ-K beinhaltet drei Faktoren (Soziale Interaktion und Spontanität, Fantasie und Vorstellungsvermögen, Kommunikation und Reziprozität).

Empathie Quotient (EQ):

Der Empathie Quotient ist eine auf einem Testverfahren beruhende Maßzahl für Defizite in der Fähigkeit zur Empathie. Der Fragebogen ermittelt dabei die subjektiv wahrgenommene Überzeugung hinsichtlich der eigenen Empathie, eine der grundlegenden Komponenten im emotionalen und sozialen Leben. Der Empathiequotient ist ein psychologisches Selbstberichtsmaß für Empathie, das von Simon Baron-Cohen und Sally Wheelwright am Autism Research Center der University of Cambridge entwickelt wurde. Der EQ basiert auf einer Definition von Empathie, die Erkenntnis und Affekt umfasst.

Raads 14 R (Kurzversion)

Der RAADS wurde entwickelt, um Autismus-Symptome bei Erwachsenen zu identifizieren, die spät oder gar nicht diagnostiziert wurden. Er umfasst Fragen zu sozialen, sensorischen und kognitiven Merkmalen, die oft übersehen werden, und ermöglicht eine Differenzierung von anderen psychischen Störungen.

Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK):

Der Elternfragebogen (Fremdbeurteilungsbogen) FSK dient der Erfassung von abnormen sozialen Interaktions- und Kommunikationsmustern sowie stereotypen Verhaltensweisen im Vorfeld einer eingehenderen klinischen Diagnostik. Der FSK ist ein 40 binäre Items umfassendes Screening-Instrument, das als komplementäre Skala zur Diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) sowie zum Diagnostischen Interview für Autismus-Revision (ADI-R) konstruiert wurde und den diagnostischen Leitlinien von ICD-10 und DSM-IV-TR folgt. Es liegen eine Lebenszeitversion und eine Form zur Erfassung des aktuellen Verhaltens vor.

ass-tests

Ados-2 Modul 4

Der ADOS-2 (Autism Diagnostic Observation Schedule, Second Edition) ist ein diagnostisches Instrument zur Beurteilung von Kommunikationsfähigkeiten, sozialer Interaktion und Spielverhalten bei Personen mit Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störungen. Modul 4 des ADOS-2 ist spezifisch für Jugendliche und Erwachsene, die sprachlich fließend sind und richtet sich an jene, die keine spielerischen Aktivitäten wie in den anderen Modulen benötigen.

Die Durchführung des Tests erfolgt in einer standardisierten Umgebung, in der der Beobachter eine Reihe von Aufgaben und Interaktionen initiiert, um die Reaktionen der getesteten Person zu bewerten. Einige der Aufgaben umfassen:

-Geführte Gespräche zur Beurteilung von Pragmatik und Empathie

-Offene Diskussionen über spezifische Interessen

-Reaktionen auf soziale Situationen oder unvorhersehbare Ereignisse

ASS im sozialgesetzlichen Kontext

Im Erwachsenenalter ist die Problematik häufig an Arbeitsfähigkeit und berufliche Integration gebunden. Neben therapeutischen Maßnahmen führen die Funktionsstörungen durch ASS oft zu sozialgesetzlichen Fragestellungen, aus denen sich Ansprüche auf Anerkennung und Leistungen ergeben. Die sozialgesetzliche Anerkennung von ASS ist ohne Kenntnis der Komorbiditäten und der spezifischen Merkmale der Störung jedoch schwierig.

Ein scheinbar unauffälliger bisheriger Entwicklungsweg wird vielfach als Argument gegen das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung verwendet. Besonders ein schulischer Abschluss wird oft als Beleg dafür genommen, dass keine schwerwiegende Autismus-Spektrum-Störung vorliegt und somit kein Anspruch auf Hilfen besteht. Dabei wird übersehen, dass insbesondere für hochfunktionale Betroffene die schulischen Strukturen mit ihren Routinen und klaren Abläufen stabilisierend wirken können.

Hochfunktional vs. Niedriges Funktionsniveau

Der Begriff „Hochfunktionalität“ sorgt häufig für Missverständnisse. Ursprünglich bezog er sich auf frühkindlichen Autismus bei einem IQ über 69 ohne Intelligenzminderung und/oder nur verzögerter Sprachentwicklung. Bei Asperger-Syndrom meint er ein hohes Intelligenzniveau und eine exzellente Sprachentwicklung. Wichtige Klarstellung: Die „Hochfunktionalität“ bezieht sich nicht auf das soziale Funktionsniveau.

Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass ein gutes Funktionsniveau durch selbstständige Lebensführung, soziale Kontakte und Erwerbsarbeit gekennzeichnet ist. Ein schlechtes Funktionsniveau äußert sich in Abhängigkeit von Unterstützung, stationärer Unterbringung und fehlenden Beziehungen. Bei der Hälfte der Betroffenen ist der Langzeitverlauf ungünstig, mit dauerhafter Abhängigkeit von fremder Hilfe.

Veränderungen und Herausforderungen beim Übergang ins Erwachsenenleben

Hochfunktionale Varianten von ASS werden während der Schulzeit oft wegen guter Leistungen und Akzeptanz durch Lehrer und Mitschüler nicht auffällig. Die klaren Strukturen der Schule bieten Stabilität. Im Übergang ins Erwachsenenleben, etwa beim Berufseinstieg oder Studium, können die neuen, weniger strukturierten Anforderungen jedoch zu einem „Knick in der Lebensleitlinie“ führen.

Plötzlich treten soziale Auffälligkeiten zutage, und die Betroffenen erleben häufig einen langen, oft erfolglosen Kampf um sozialgesetzliche Anerkennung und Unterstützung – obwohl gesetzlich eigentlich Inklusion und Teilhabe gesichert sein sollten.

Stereotype und gesellschaftliche Wahrnehmung

Für viele Laien und auch für Fachleute dient der Film „Rain Man“ (1988) als Referenz für das Bild eines erwachsenen Autisten. Die Rolle des Raymond Babbitt prägte einen unumstößlichen Stereotyp, der jedoch kaum der Realität entspricht. Die meisten Erwachsenen mit ASS zeigen nicht dieses Verhalten oder Erleben.

Dennoch bleibt dieser Stereotyp der Maßstab für die Beurteilung von Autismus im Erwachsenenalter. Filme wie Forrest Gump oder Wochenendrebellen zeigen dagegen relativ realitätsnah was Autismus für Betroffene oder gar Familien bedeuten kann.

Wichtig ist jedoch zu bedenken: Es gibt keinen Stereotypen, es gibt nicht den Autisten – auch nicht im Erwachsenenalter. Jede Autismus-Spektrum-Störung ist hoch individuell ausgeprägt und muss als solche verstanden werden.